Wir alle sind berufen – auch ich?

Als Jesus wieder einmal unterwegs war, sah er einen Mann am Zoll sitzen. Zu ihm sagte er: Folge mir nach! Da verließ dieser Mann alles und folgte ihm nach. (vgl Lk 5, 27f)
Diese Szene hat der italienische Maler Caravaggio in einer ergreifenden Momentaufnahme festgehalten, ein Bild, das heute in der Contarelli-Kapelle der Kirche San Luigi die Francesi unweit vom Pantheon in Rom zu bewundern ist. Wenn es nicht das Thema forderte, würde man die halb verdeckte Gestalt in der rechten Bildhälfte leicht übersehen, geschweige denn ihr eine prägende
Funktion zuschreiben. Nicht zu übergehen ist der Mann in der Mitte, mit forscher Kopfbedeckung und durchaus nicht in ärmlichen Kleidern. Er sitzt mit seinen Kumpanen am Geldtisch, offenbar in durchaus heiterer Laune. Sie zählen und feiern die Erträge des Tages. Da spürt der Mann plötzlich den Blick und eine Handbewegung auf sich gerichtet, zeigt mit dem Finger auf seine Brust und scheint zu fragen: Was, ich? Mehr braucht dieses Bild nicht. Jeder, der es betrachtet, staunt nicht nur über die Meisterschaft des Künstlers, sondern spürt sofort die Betroffenheit des Angesprochenen. Vielleicht auch ich? Der Mann, um den es sich hier dreht, ist der Zöllner Levi, der uns heute als der Apostel und Evangelist Matthäus bekannt ist. Sie hatten nicht den besten Ruf, die Zöllner, sie standen mitten im Wirtschaftsleben und Gewinne machen gehörte zum Beruf. Und da wird uns einer als Vorbild hingestellt, der aufsteht, alles liegen und stehen lässt und einem fremden Wanderprediger nachfolgt.
Auch ich?
Wenn wir die Frage nach der Historizität einer solchen Szene beiseitelassen, weil sie immer mit der Patina der Erzählabsicht übertüncht ist, dann ist es der innere Impuls, der dem Leben eine neue oder andere Ausrichtung zu geben imstande ist. Nicht nüchternes Kalkül, nicht Verführung der Masse mit ihren weltumgreifenden Werbetechniken, nicht die in Aussicht gestellten Möglichkeiten auf wirtschaftlichen Erfolg, nein, ausschließlich das umklammernde Gefühl „auch ich“! Freilich, wenn wir heute in der Kirche – von innen heraus bis an die Ränder reichend – ganz selbstverständlich davon reden, dass wir alle berufen sind, dann geistert gleich die Frage im Raum, wie es denn mit denen sei, die Gott speziell berufen und mit eigenen Vollmachten ausgestattet hat. Und unversehens sind wir bei einer „heiligen Herrschaft“, die so ganz und gar nicht auf das Ursprungsmodell von Kirche passen will. Wir, die wir an unseren Zollstätten sitzen, sind die Gerufenen, sind die, auf die sich die Blicke jenes Unwiderstehlichen richten, auf die „der Finger Gottes“ zeigt und wie ein Cursor über unseren Alltags-Desktop streicht. Immer mit der Spitze nach oben.
Dem inneren Ruf folgen
Was wird den Mann an der Zollstätte von Kafarnaum bewogen haben, aufzustehen und zu gehen? Was wird und kann uns heute dazu bewegen? In erster Linie wohl das diffuse Gefühl, dass es mit den „Tatsachen dieser Welt“ (Ludwig Wittgenstein) vielleicht doch nicht alles ist und die Fragen des Woher und Wohin damit nicht hinreichend beantwortet sind. Wie viele Menschen leiden heute an einer tiefen Sinnleere, die ihr Leben austrocknet und Perspektivenlosigkeit nach sich zieht, da braucht es eine Rückwendung zu einem Bewusstsein, dass solche Fragen nicht im großen Radau der Welt beantwortet werden, sondern sich als „Ruf“ unserem Inneren nähern. Wir alle sind gerufen, gerufen von einer höheren Wirklichkeit, die oft im stillen Fingerzeig, im gezielten Blick oder im Säuseln des Windes zu entdecken ist. Womit gesagt sein will, dass die Grundlage für all unser Reden über Ge- und Berufensein allein der Glaube sein kann, ein Glaube, der sich in vielen Talenten entfaltet, aber immer nur aus einem Geist heraus sprechen kann. (vgl. 1Kor 12)
Farbe bekennen
Zurück zur Zollstätte! Wie gelingt heute Christusnachfolge im Getriebe von Wirtschaft und Fortschritt? Wie vertragen sich die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt mit den Ansprüchen einer Moral, die sich auf den „Anruf“ gegründet hat? Es wird für die Kirche von großer Wichtigkeit werden,
nach außen klar zu machen, wie sie sich das Verhältnis von Realismus und Idealismus zu gestalten gedenkt. Ein Gerufensein ohne Anstoß zum Gehen wird eine leblose Wüste hinterlassen, Enttäuschung bei allen, die auf uns große Hoffnungen gesetzt haben. „Und folgte ihm nach“ – das ist erst die Vollendung des Gerufenseins und letztlich sein Sinn! An der Zollstätte Wohlstandsgesellschaft, an der wir alle sitzen, heißt es Farbe zu bekennen in der Balance von Selbsterlösung und barmherziger
Samariter. Daran kommt heute keine Politik, die sich irgendwie vom christlichen Geist hat inspirieren lassen, vorbei. Was immer die Themen der letzten Jahre gewesen sind, es gibt kein Entkommen: Der Nächste ist immer der, der unsere Hilfe braucht!
Gut verwurzelt sein
Was braucht der Einzelne für sein Gerufensein? In der Sprache der Bibel: Gutes Erdreich.
Weitläufiges Kulturchristentum wird wie die frei herumliegenden Körner am Weg von den frechen Weltspatzen gleich wieder weggefressen. Da bleibt alles an der Oberfläche und ist auch oberflächlich. Eventchristen hingegen gleichen dem steinigen Boden mit seiner dünnen Humusschicht, die beim ersten „Sonnenstand“ gleich wieder ausbrennt. Wo keine Tiefe ist, da ist das Burn-out nicht weit.
Was wir brauchen ist fruchtbares Erdreich für den Glauben, und dieses ist nur in der kleinen Einheit gläubiger Menschen, die wir Pfarrgemeinde nennen, reichlich vorhanden. Da ist das Grundwasser und da sind die Mineralsalze der Seele zu finden, die wir brauchen, um den Berufungs-Setzling zu einem witterungsbeständigen Baum werden zu lassen.
Mag. Ernest Theußl,
Vorsitzender der KMB-Österreich